
In einer Demokratie dürfen sich die Bürger als Fan einer Marke outen, die in diesem Fall Partei heißt: mit einem einfachen Kreuz auf einem Stimmzettel. Bildquelle: © AR Pictures / Fotolia
Das Wahlergebnis überrascht keinen Markenexperten
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29. September 2017 ▪ Lesezeit: ca. 4:10 Min.
Unprofiliertheit führt zu Verunsicherung und am Ende zu Vertrauensverlust. Man wechselt seine geliebte Marke nur dann, wenn sie die vertraute Sicherheit nicht mehr liefern kann.
Wenn sich Menschen in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten für oder gegen etwas entscheiden müssen, haben zwei Verhaltensformen Hochkonjunktur: Misstrauen und Enthaltung. Das ließ sich nun auch während der Bundestagswahl 2017 beobachten.
Warum? Wo es Versprechungen im Überfluss gibt, schwindet das Vertrauen. Etwa in gesättigten Märkten: Wenn das Angebot die Nachfrage übersteigt, sinken die Preise – sofern es nicht gelingt, anhand der Marke Wert ins Spiel zu bringen. Denn dann wird der Glaube gekauft und nicht der Nutzen.
Wahlentscheidungen fallen eher emotional als rational
Etablierte Marken liefern also die nötige Stabilität und erzeugen Vertrauen. Sie verwandeln Wert in Wertschätzung. Das gelingt ihnen, indem sie ihren Leistungsspeicher immer wieder neu aufladen. Dadurch entsteht neues Vertrauen, das zwar ab und zu einen neuen Impuls braucht – aber eigentlich von der Garantie lebt, dass die auserwählte Automarke oder Zahnpastamarke genau das liefert, wofür ich sie einmal zum Favoriten auserkoren habe.
Ein Konsument, der „seine Marke" gefunden hat, verzichtet deshalb darauf, sich mit anderen Anbietern auseinanderzusetzen. Man stelle sich das Dilemma vor, wenn wir uns bei jedem Kauf von Alltagsgütern vor den Regalen der Supermärkte jeden Tag mit neuen Produkten auseinandersetzen müssten.
Diese ehernen Gesetze der Markenführung gelten – mit leichten Abwandlungen – auch für Parteien, Religionsgemeinschaften, Verbände und Zweckgemeinschaften. In einer Demokratie dürfen sich die Bürger als Fan einer Marke outen, die in diesem Fall Partei heißt: mit einem einfachen Kreuz auf einem Stimmzettel.
Bei politischen Wahlen werden Haltung und Vertrauen „gekauft"
Der psychologische Vorgang ist dabei derselbe wie bei vielen anderen Entscheidungen, die man im Leben treffen muss: Einige neue Impulse animieren einen Menschen dazu, sich zu erinnern, woraufhin er zu jener Marke greift, der er vertraut und von der er eine stabile Leistung erwartet.
Wenn er seine Überzeugungen in einer Partei wiederfindet, dient seine Wahl zum einen der Werterhaltung. Zum anderen erwartet er von "seiner Partei", dass sie mit Personen und Programmen zeigt, wie sie die anstehenden gesellschaftlichen Aufgaben zu bewältigen gedenkt.
Bei politischen Wahlen werden Haltung und Vertrauen "gekauft". Mit den auf den Stimmzetteln angebotenen Marken wird eine Auswahl getroffen, die eher emotional, aus dem Bauch heraus, entschieden wird – und weit weniger mit dem rationalen Kopf. Das ist bei Marken immer so.
Verunsicherung endet in Enthaltsamkeit oder in Zweifel
Wieso sollte es also verwundern, dass Deutschland dieses Wahlergebnis bekommen hat? Beginnen wir bei den großen Volksparteien, den großen Kaufhäusern mit dem größten Angebotsbuffet für die breiten Wählerschichten. Im Laufe der Jahre haben sich dort viele Versprechen angesammelt – die Wähler können kaum noch erkennen, woraus die Spezifik dieses Sortiments besteht. Sie sind überfordert, weil sie alles vorfinden und das obendrein in verschiedenen Varianten.
Vermutlich sind sie etwas enttäuscht, weil sie kaum etwas finden, was andere Parteien nicht in gleicher oder ähnlicher Form im Angebot haben. Die Folge ist Verunsicherung – und diese endet in Enthaltsamkeit oder in Zweifel. Im politischen Kontext sagt man dazu "Nichtwähler" und "Unentschlossene". Davon gibt es immer mehr und die großen Schlachtschiffe der Demokratie spüren das am deutlichsten.
Unprofiliertheit führt zu Verunsicherung und am Ende zu Vertrauensverlust. Man wechselt seine geliebte Marke – eine Partei – nur dann, wenn sie die vertraute Sicherheit nicht mehr liefern kann.
Die großen Parteien sind wie Kaufhäuser, die anderen wie Neuheiten im Regal
Schauen wir auf die Neuen (oder Wiederauferstandenen). Sie leben aktuell vom Impulsverhalten der Wähler, weil sie noch nicht mit beweisbaren Leistungen punkten können. Sie können also nur auf Versprechen und Hoffnungen setzen, die sich in Personen, Spitzenkandidaten genannt, ausdrücken.
Wer hier das beste Markenangebot hat, wird "gekauft" – und zwar von jenen, die im großen Warenangebot der etablierten Kaufhäuser (große Parteien) nicht die richtigen Anreize gefunden haben, um sie mit einem lustvollen Wiederholungskauf zu belohnen. Außerdem werden sie von jenen goutiert, die erst durch diese neuen Versprechen einen Anlass gefunden haben, sich am Kaufvorgang (der Wahl) zu beteiligen.
Bleiben noch die Nischen, besetzt von den Themenparteien. Sie haben ihr spezielles Klientel, das mit der Entscheidung für die Nische gleichzeitig die Abgrenzung von der Masse wählt. Ein großes Thema wird zur Weltanschauung, der man treu bliebt. Weil Themen ab und zu eine große Stimulation auslösen können und sie es, für eine bestimmte Zeit, in die Kategorie der weltbestimmenden Entwicklungen schaffen können, erleben solche Marken immer ein leichtes auf und ab. Je deutlicher das Thema einer dieser Parteien die aktuelle öffentliche Diskussion bestimmt, desto öfter wird sie "gekauft". Einige der Impulskäufer bleiben auch dabei, wenn das Thema abflaut oder von der Großen übernommen wurde.
Vertrauen und Impuls im Defizit ergeben ein Debakel
Wäre die Bundesrepublik Deutschland ein Konzern und die Parteien seine Produktmarken, könnte man bei den letzten großen Wahlen (Kundenveranstaltungen) sehr klar die Gründe entdecken, die zu diesem Ergebnis führten: Die Parteien für das Volk hatten zwar Sicherheit und Vertrauen zu bieten, allerdings bezogen sich diese nur auf die Vergangenheit. Die nötige Stimulation und die wichtigen Impulse, mit denen sie die Vertrauensspeicher der Wähler hätten aufladen müssen, blieben sie jedoch schuldig.
Weder konnten sie mit neuen Themen punkten noch mit personifizierten Hoffnungen. Zu allem hatten sie ein Angebot, aber nur ein durchschnittliches. Das kauft heute nur, wer muss – wer die Wahl hat, kauft lieber die Dank ihrer Ideen und Themen an der Spitze stehenden Marke. Die großen Parteien verloren nicht an Vertrauen, sie verloren an wählbarer Hoffnung.
Die neu oder erneut in den Bundestag gewählten Parteien köderten mit einem glaubwürdig gezogenen Thema, das in Personen verortbar war. Zwar konnten sie nicht wirklich ihre Leistungsfähigkeit als Marke beweisen, aber sie nährten die Hoffnung, dass die Spitzenkandidaten der Parteien für die glaubwürdige Absicht einstehen würden.
Die Themenexperten boten altbekannte Kassenschlager
Sie gewannen wegen der Hoffnung, sie gewannen noch nicht durch Vertrauen. Dafür waren ihre Kaufhäuser zu dünn bestückt und vieles fehlte ganz. Marken erleiden in diesem Status sehr oft den "Vertrauensschock" – wenn sie die leeren Regale nicht schnell genug mit dem Erwarteten auffüllen können, um das Vertrauen in das große Ganze zu gewinnen.
Die Themenexperten – ob nun mit Umwelt oder Solidarität in den Wahlkampf gezogen – warben mit altbekannten Kassenschlagern . Sie verloren nichts an Sicherheit, aber gewannen nichts an Stimulation. Als Marke würden sie von jenen gekauft, die das kleinste Risiko der großen Chance vorziehen. Weil ihre Wähler das Thema noch in diesen Parteien verankert sehen, bleiben sie bei ihrer Entscheidung – solange nicht die Gefahr der Verwässerung droht. Erst dann wären sie bereit, sich für ihre Überzeugung eine alternative Heimat zu suchen.
Ein Outbrand ist nur noch bekannt, aber nicht begehrt
Marken und Parteien sind lebende Systeme. Sie werden stärker und resilienter, wenn sie durch Klarheit und Abgrenzung zu einem begehrlichen Gut werden für sicherheits- und hoffnungssuchende Menschen.
Wo hingegen die Klarheit verwischt, erodieren Marken schnell, sie werden austauschbar. Dann beginnen Wähler (Käufer), sich für neue Angebote zu interessieren, selbst wenn diese riskant sind. Sie wollen lieber Fan und Wähler einer Marke sein, der zwar noch niemand vertraut, aber die neue Themen mit neuen Gesichtern ins Schaufenster stellt. Immer seltener wollen sie eine Marke unterstützen, die zwar jeder kennt, aber deren personelles und thematisches Angebot sie nicht mehr attraktiv finden.
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